Diskussion um Gesamtarbeitsverträge: Lobbyismus dominiert über Verfassungskonformität
Im Dezember 2020 reicht der Obwaldner Mitte-Ständerat Erich Ettlin eine Motion ein mit dem Titel «Sozialpartnerschaft vor umstrittenen Eingriffen schützen». Vertreter der Gastro- und Coiffeurbranche seien auf ihn zugekommen, sagt der Obwaldner Ständerat gegenüber «der Republik». Das Ziel der Motion ist eine Gesetzesänderung: Ein national gültiger Gesamtarbeitsvertrag (GAV) soll nicht mehr von einem kantonalen Gesetz ausgehebelt werden können. Genauer: Immer dann, wenn der Bundesrat einen GAV als allgemeinverbindlich erklärt und dieser somit künftig für alle Unternehmen in einer spezifischen Branche gilt, soll dieser GAV über kantonalem Recht stehen.
Die Motion, welche von National- und Ständerat 2022 aufgrund der Bürgerlichen Ja-Stimmen angenommen wurde, verstösst gegen mehrere Grundpfeiler der Schweizer Rechtsordnung. Sie ist weder kompatibel mit der Verfassung (Artikel 110 BV) noch mit dem Föderalismus, zumal die Sozialpolitik eine Angelegenheit der Kantone und Gemeinden ist. Der Bundesrat wurde mit der Umsetzung der Motion beauftrag und hat genauso wie die beiden Räte wenig Respekt vor der Verfassung gezeigt. Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel wurde zum Sachverhalt befragt und äusserte sich folgendermassen: «Der Bundesrat hätte beantragen sollen, die Motion abzuschreiben.» Anstatt dies zu tun, hat er es vorgezogen, eine verfassungswidrige Umsetzungsvariante auszuarbeiten und diese zur Ablehnung zu empfehlen.
Was zeigt uns das Ganze: Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), welches den Auftrag zur Umsetzung erhielt, setzt sich gegenüber dem Bundesamt für Justiz durch, welches klarstellte, dass die Motion nicht im Einklang mit der Verfassung steht und deshalb nicht umgesetzt werden kann. Ebenfalls in einem schlechten Licht stehen die allermeisten bürgerlichen Politiker in dieser Angelegenheit da. Sie haben die Interessen des Arbeitgeberverband Gastro-Suisse, mit welchem sie eng zusammenarbeiten, höher gewichtet als die Verfassung. Lobbyismus oder schöner gesagt «Interessensvertretung» hat sowohl im Seco als auch im Parlament in dieser Angelegenheit vorerst über die Rechtsstaatlichkeit gesiegt.
Die gute Nachricht zum Schluss: Es gibt Akteure, die sich mehr um die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit kümmern als unsere National- und Ständeräte, die auf allen Seiten des politischen Spektrums sehr «flexibel» mit der Bundesverfassung umgehen. Der Politbeobachter hat eine Vernehmlassungsantwort geschrieben und klare Worte gefunden zum AVEG-Gesetz, über welches die verfassungsfeindliche Gesetzesanpassung zum GAV umgesetzt werden soll.
Quellen:
https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20204738