Notwendig oder nicht?
Wer hat das Referendum ergriffen, wer ist betroffen und worum geht’s?
Mit über 140.000 Unterschriften reichten diverse Gewerkschaften (SGB, Travailsuisse, Unia, VPOD) unterstützt von der SP, den Grünen und dem Konsumentenmagazin «K-Tipp» im Juni 2023 ein aussergewöhnlich starkes Referendum ein. Alle die bei einem Arbeitgeber ein Einkommen von mehr als 22.050 CHF (3/4 der maximalen AHV-Altersrente) pro Jahr haben, sind BVG-Versichert. 80 Prozent des Jahreslohnes bis maximal 88.200 Franken Jahreseinkommen, sind im BVG-Obligatorium versichert und darum gehts. Nicht von der Reform tangiert ist der überobligatorische Bereich des BVG für Löhne über 88.200 CHF. Von der Reform betroffen sind folglich alle, die mehr als rund 22.050 CHF Jahreslohn haben. Wie sich die Reform auf die zukünftige Rente und den Nettolohn auswirkt, ist individuell.
Die geplante Gesetzesänderung bringt konkret folgende Anpassungen mit sich:
Senkung des Mindestumwandlungssatzes von 6.8 auf 6%
Dies bewirkt, dass z.B. pro 100.000 CHF angespartem Altersguthaben von den Pensionskassen nur noch 6.000 CHF und nicht mehr 6.800 CHF jährliche Rente bezahlt werden muss.
Reduktion des Koordinationsabzugs
In der beruflichen Vorsorge ist nur der Lohn berücksichtigt, welcher nicht über die AHV versichert ist. Der Koordinationsabzug beträgt heute 25.725 CHF (wer heute z.B. 40.000 CHF jährlich verdient, hat im BVG einen versicherten Lohn von 14.275 CHF). Mit der vorliegenden BVG-Reform soll der Koordinationsabzug neu 20 Prozent des AHV-Lohnes betragen. Damit wären Personen mit geringen Einkommen verpflichtet, mehr in der beruflichen Vorsorge zu sparen. Diese Massnahme bewirkt für sich betrachtet beim Versicherten kurzfristig einen geringeren Nettolohn und langfristig eine etwas höhere Rente. Bei 40.000 CHF Lohn wären neu insgesamt 32.000 CHF versichert.
Flachere Staffelung der Altersgutschriften
Mit zunehmendem Alter steigen die Beiträge von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite aktuell von 7% auf 18%. Ein Arbeitgeber muss für ältere Angestellte also höhere Lohnbeiträge zahlen als für jüngere. Die Idee der Massnahme ist, eine durch das BVG bedingte Benachteiligung älterer Personen auf dem Arbeitsmarkt (aufgrund der höheren Lohnkosten für den Arbeitgeber) zu verhindern. Neu sollen die Beiträge nur noch zwischen 9% und 14% variieren.
Kompensationsmassnahmen für die Übergangsgeneration
Arbeitnehmende, die in den ersten Jahren nach Inkrafttreten der Reform pensioniert werden (sogenannte Übergangsgeneration), erhalten je nach Jahrgang und Vorsorgeguthaben einen Rentenzuschlag. Damit sinken die Renten der Arbeitenden, die heute zwischen 50 und 65 Jahren alt sind, durch die Reform weniger stark.
Senkung der Eintrittsschwelle
Die Eintrittsschwelle, das heisst der Mindestjahreslohn, ab dem die berufliche Vorsorge obligatorisch ist, würde mit der BVG-Reform von heute 22.050 CHF auf 19.845 CHF gesenkt. Mit der Senkung der Eintrittsschwelle sind rund 70.000 Arbeitnehmende neu und 30.000 Mehrfachbeschäftigte für zusätzliche Anstellungsverhältnisse zu versichern. Diese Personen erhalten damit einerseits Zugang zur beruflichen Vorsorge und eine bessere Versicherung, anderseits aber auch einen tieferen Nettolohn aufgrund der höheren Lohnabzüge.
Kommentar Politbeobachter:
Die Änderung des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen und Invalidenvorsorge entstand in einer historisch einmaligen Negativzinsphase, welche es den Pensionskassen sehr schwierig machte, Anlageerträge zu erzielen. Während der ertragsmageren Jahre ergab sich kalkulatorisch eine Umverteilung von jung zu alt von bis zu 6 Milliarden CHF pro Jahr. Dies darf nicht sein. Die Kassen reagierten mit höheren Beiträgen und tieferen Renten auf die ungenügende Ertragslage. Genauso wie die Negativzinsen sind seit 2020 auch die Umverteilungen zulasten der arbeitstätigen Generation verschwunden. das Hauptargument für die anstehende BVG-Revision ist somit hinfällig geworden.
Eine Frage klassische Frage zur Reform bleibt: Qui bono? Bei den aktiv Versicherten die einzahlen, ist es unterschiedlich und hängt vom Einzelfall ab. In der Summe hat jedoch das Referendumskomitee recht. Für sehr viele erwerbstätige bedeutet die Reform weniger Nettolohn aufgrund höherer Abzüge und dafür eine geringere Rente – ein schlechter Deal. Für die Rentner ändert sich kaum etwas – bestehende Renten werden nicht verändert. Für die Versicherungsindustrie ist die Reform ein Segen – soviel steht bereits heute fest. Mehr Beitragszahler (durch Reduktion der BVG-Eintrittsschwelle) die im Schnitt einen höheren Lohn versichern (neu 20% des AHV-Lohns) sorgen garantiert für Umsatz und Profitabilitätswachstum. Zudem weniger Rentenverpflichtung aus dem gleichen Sparkapital zahlen zu müssen, ist für Pensionskassen geleichbedeutend mit dem Knacken eines Jackpots.
Im BVG braucht es Reformen, jedoch nicht diejenigen über welche am 22. September abgestimmt wird. Drei Problemfelder die man dringend angehen sollte:
- Bestehende Renten haben keinen Teuerungsausgleich, obwohl es den Pensionskassen finanziell sehr gut geht. Gerechnet mit der heutigen Teuerung verliert eine Rente über 20 Jahre rund einen Viertel der Kaufkraft – daran könnte und müsste etwas geändert werden. 2023 betrug der durchschnittliche Deckungsgrad der Pensionskassen 110% – die Verpflichtungen der Pensionskassen gegenüber den Versicherten waren also mehr als gedeckt und es war somit deutlich mehr Geld vorhanden als notwendig. Müsste nicht eher über die Höhe des Teuerungsausgleichs als über die Umwandlungssatzkürzung diskutiert werden?
- Die Berufliche Vorsorge war vom Gesetzgeber ursprünglich als nichtgewinnorientierte, Sozialversicherung konzipiert worden. Doch unter dem Radar der gemeinnützigen Pensionskassen hat sich ein privates, lukratives Finanz-Business eingerichtet, das Jahr für Jahr wächst. Bei der Zweiten Säule versickern pro Jahr rund 8 Milliarden Franken für die Vermögens-Verwaltung und Kassenkosten! Erstere machen 90% aus und variieren von 0.25 – 1.2 % der Anlagesumme pro Jahr. Das Einsparpotential ist riesig, doch die Lobbyisten der Bank- und Versicherungsbranche im Bundeshaus waren bis jetzt so stark, dass dieses nicht realisiert werden konnte.
- Die Renten der Frauen sind viel tiefer als diejenigen der Männer – auch bei einem Ja zur Reform würde sich hier wenig ändern. Dies weil unbezahlte Sorgearbeit, die immer noch vor allem Frauen leisten, von den Pensionskassen nicht anerkannt wird. Dass es auch anders gehen würde, beweist die in der ersten Säule getroffene Lösung mit Erziehungsgutschriften.